Offiziell endete das Lehrerinnen-Zölibat vor rund 100 Jahren, nämlich mit der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung am 11. August 1919. Doch die Lebenswirklichkeit vieler Pädagoginnen sah noch sehr lange anders aus. Die Historikerin Prof. Dr. Sabine Liebig ist Professorin am Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und beleuchtet in einer Untersuchung ein Thema, das noch gar nicht lange her ist, und zum anderen eine unglaubliche Benachteiligung von Frauen darstellt: Das Lehrerinnen-Zölibat, das bis in die 1950er Jahre hinein anhielt. Ihre Untersuchungen werden demnächst in einem Buch im Kohlhammer Verlag veröffentlicht. Fondsfrau Anke Dembowski spricht mit der Historikerin über die Diskriminierung von Frauen im Kaiserreich und auch danach.

Frau Prof. Liebig, wie kamen Sie dazu, sich ausgerechnet dem Thema des Lehrerinnen-Zölibats zu widmen?
Ich habe über das Stadtarchiv Freudenstadt einen Nachlass erhalten, von der Schriftführerin und Lehrerin Febronie Rommel (1853 – 1927) des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins. Beim Einlesen in den Nachlass sind mir u.a. einige Dinge aufgefallen, und so wollte ich tiefer in das Thema einsteigen.

Was genau hat es denn mit dem Lehrerinnen-Zölibat auf sich?
Das Lehrerinnen-Zölibat war gesetzlich verankert und hatte seinen Ursprung im Kaiserreich, in den 1870er Jahren. Zu der Zeit gab es nur wenig Lehrerstellen, die Konkurrenz war also groß. Daraufhin traten die Lehrer-Verbände, die natürlich männlich dominiert waren, an die Politik heran. Die gesetzgebenden Politiker waren ausschließlich Männer, da Frauen, bis zum Frauenwahlrecht von 1918, von der Politik gänzlich ausgeschlossen waren, und entsprechend hat die Politik reagiert. In Baden wurde 1879 ein Gesetz erlassen, nach dem eine Frau unverheiratet sein musste, wenn sie im Schuldienst war. 1880 wurde dieses Gesetz im Kaiserreich weiter durchgesetzt, reichsweit.

Haben sich die Lehrerinnen, die es gab, nicht dagegen gewehrt?
Doch, natürlich! Einige haben sogar geklagt. Mir ist ein Fall bekannt, in dem eine Lehrerin vor dem Jahr 1892 geklagt hatte, weil sie vom Schuldienst suspendiert wurde, obwohl in ihrer Beamtinnen-Urkunde nicht stand, dass sie unverheiratet sein müsse. 1896 und 1897 gab es sogar zwei entsprechende Urteile, eins in Aschersleben und eins in Frankfurt. Die Klagen liefen aber nicht auf eine Wieder-Einstellung hinaus, sondern die Lehrerinnen konnten lediglich erreichen, dass sie noch für eine Weile ihr Gehalt weitergezahlt bekamen. Die Folge der Urteile war, dass man dazu überging, gleich einen Passus in die Anstellungsurkunde aufzunehmen, dass eine Lehrerin bei Eheschließung aus dem Dienst ausscheidet.

In der heutigen Zeit hört sich das unfassbar an. Wie ließ sich das denn damals begründen?
Im 19. Jahrhundert herrschte die Meinung vor, dass die höchste Berufung einer Frau das Dasein als Hausfrau und Mutter sei. Diesem „Beruf“ sollte sie sich zu 100 Prozent widmen – zum Wohle des Mannes und der Familie. Man ging deshalb davon aus, dass eine Frau nicht beides konnte: Berufstätig sein und ihrer eigentlichen Bestimmung nachgehen. Aber sehen Sie: Auch heute noch stellt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch sehr oft ein Thema dar.

Waren denn die Gehälter für Lehrerinnen, solange sie im Staatsdienst arbeiteten, genauso hoch wie die von ihren männlichen Kollegen?
Nein, die Lehrerinnen-Gehälter waren ganz offiziell niedriger als die von Lehrern. Die Begründung war, dass Frauen ihren Haushalt selbst erledigen könnten, beispielsweise ihre Kleider selbst nähen und waschen. Bei einem männlichen Lehrer ging man davon aus, dass er entweder eine Frau heiratet, die das dann für ihn erledigt, oder dass er eine Haushälterin benötigt. Wenn er heiratete, war der finanzielle Bedarf des Lehrers höher, weil er dann ja eine Familie zu versorgen hatte.

Es gab in der Zeit aber doch auch Fabrikarbeiterinnen, Haushälterinnen, Wäscherinnen und so weiter. Wie kommt es, dass diese berufstätig sein konnten und verheiratete Lehrerinnen nicht?
Das Moral- und Gesellschaftsbild, dass der höchste Beruf einer Frau Hausfrau und Mutter ist, dem sie sich zu 100 Prozent widmen sollte, galt nur für bürgerliche Frauen, wobei in der Arbeiterschaft die Frauen wirklich enorm belastet waren.

Haben die Menschen das Lehrerinnen-Zölibat damals akzeptiert?
Ja, denn aufgrund der Mentalität der Zeit, akzeptierten viele Frauen – darunter auch Lehrerinnen – das Zölibat. Aber auch wenn viele Frauen das Zölibat befürworteten, plädierten sie doch zumindest für eine Abfindung, wenn eine Frau im Staatsdienst dann heiraten wollte.

Wie sah es denn mit anderen akademischen Berufen für Frauen aus?
Mit der Eheschließung wurden ja nicht nur Lehrerinnen, sondern alle Beamtinnen entlassen. Aber sehen Sie: Frauen durften überhaupt erst seit 1908 studieren und Examen machen, daher haben sich die Frauenrechtlerinnen zunächst auf die Lehrerinnen fokussiert. Etwa ab 1904 gingen Frauenrechtlerinnen gegen das Lehrerinnen-Zölibat vor.

Mussten die Lehrerinnen damals auch keusch leben?
Damals mussten alle Frauen keusch leben. Frauen mit außerehelichen sexuellen Beziehungen wurden damals schwerst benachteiligt. Die sexuelle Lust der Frau wurde in der Gesellschaft nicht akzeptiert, bzw. Frauen wurde Sexualität grundsätzlich abgesprochen. Zu diesem Thema habe ich übrigens eine sehr interessante Quelle aus dem Jahr 1904 entdeckt: Damals gab es die erste große Lehrerinnen-Versammlung, die auch eine Broschüre herausgebracht hat. In ihr wurde thematisiert, wie es ist, wenn Frauen ohne Sexualität leben und ihnen nur die Onanie bleibt. Das hätte ich nicht erwartet, nicht in dieser Zeit. Die Broschüre wurde dann auch in der Lehrerinnenzeitung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins beworben, damit sich Lehrinnen über die Diskussion informieren konnten.

Wenn eine Lehrerin damals geheiratet hat, verlor sie dann neben ihren Job und auch ihre bis dahin aufgebaute Altersvorsorge?
Das war abhängig vom Bundesland. In einigen Bundesländern verloren die Lehrerinnen ihre Pensionsansprüche, in anderen blieben sie erhalten.

Wie haben die Kinder damals ihre Lehrerinnen ansprechen müssen?
Fräulein Sowieso. In dem Nachlass, den ich erhalten habe, habe ich z.B. Schülerinnen-Briefe „An Fräulein Rommel“ gefunden. Die Ansprache „Fräulein“ war aber allgemein noch bis in die 1980er Jahre üblich!

Gingen mit dem Lehrerinnen-Zölibat weitere Einschränkungen einher? Beispielsweise dass Lehrerinnen nicht an Tanz- und anderen Vergnügungsveranstaltungen teilnehmen durften oder ähnliches?
Darauf bin ich bei meinen Recherchen nicht gestoßen. Aber auch heute noch gilt, dass man als Beamtin ein vorbildliches Leben führen muss; man ist ja Vertreterin des Staates. Das gilt übrigens für Männer wie für Frauen und ist im Beamtenrecht verankert. Auch die katholische Kirche verlangt heute noch von Studentinnen, die katholische Theologie studieren, dass sie ein anständiges Leben führen, also z.B. nicht in wilder Ehe leben. Hier muss man allerdings bedenken, dass für Frauen im 19. und 20. Jahrhundert ganz andere Schicklichkeitsregeln galten. Und wenn eine Lehrerin auf dem Dorf wohnte, stand sie natürlich unter sehr enger Beobachtung der Gesellschaft.

Wie sah denn die Wohnsituation der unverheirateten Lehrerinnen damals aus?
Je nachdem wo die Lehrerinnen unterrichteten, wohnten sie auch. Während es viele Volksschulen auch auf dem Land gab, waren Höhere Mädchenschulen nur in Städten angesiedelt. Die Lehrerinnen mussten sich eine Wohnung suchen, bekamen teilweise aber auch einen Mietzuschuss. Oft war das Lehrerinnen-Gehalt an den Mietspiegel angepasst. Damals haben sich viele Lehrerinnen zu Wohngemeinschaften zusammengetan, was überwiegend praktische Gründe hatte. So waren sie nicht alleine, was auch ein Stück Sicherheit bedeutet hat. Es ist schwer zu sagen, ob es sich hier zum Teil auch um Lebensgemeinschaften handelte – von Helene Lange und Gertrud Bäumer vermutet man das.

Wie lange galt das Lehrerinnen-Zölibat?
Nach der Weimarer Verfassung vom August 1919 waren Männer und Frauen grundsätzlich gleichberechtigt, damit war die Weimarer Verfassung die modernste demokratische Verfassung der Welt. Trotzdem sah aber die Lebenswirklichkeit vieler Frauen noch anders aus. Im Mai 1949 wurde dann das Grundgesetz verabschiedet, und Artikel 3 enthält die Gleichberechtigungs-Klausel. Elisabeth Selbert, eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“, hat sich dafür stark gemacht und mit anderen Frauen dafür gesorgt, dass das Wort „grundsätzlich“ gestrichen wurde. Nach dem Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt, und nicht nur „grundsätzlich gleichberechtigt“. In Artikel 117 verpflichtete sie die Regierung, die Gesetze an das Grundgesetz, also die Verfassung, anzupassen. Das wurde dann so verschleppt, dass das Bundesverfassungsgericht die Bundesländer nach und nach unter Druck setzen musste. So kam es, dass das Lehrerinnen-Zölibat erst in den 1950er Jahren aufgehoben wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren ja Frauen auch in anderen Bereichen benachteiligt…
Ja, bis 1962 durfte eine verheiratete Frau bei der Bank nur mit schriftlichem Einverständnis des Ehemannes ein Konto eröffnen. Und bis 1977 durfte eine Frau ohne Zustimmung ihres Mannes keine Arbeit annehmen. Bis 1997 war eine Vergewaltigung in der Ehe nur eine Sittenwidrigkeit und keine Straftat, und erst seit 1998 ist sexuelle Gewalt ein Asylgrund – das ist also gerade einmal 20 Jahre her. Übrigens ist Frauen-Skispringen erst 2014 olympisch geworden.

Many Thanks for the interesting interview!

Profilbild von Anke Dembowski

Anke Dembowski

Anke Dembowski is a financial journalist and author of various investment fund-related and other financial books. She is also a co-founder of the "Fondsfrauen" network.

Corporate Partners